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Nachruf auf Annette Kuhn (1934-2019)

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Nachruf auf Annette Kuhn, verfasst von Bea Lundt.

Die Aufregung war groß, als sich in dem Lehrerzimmer der Gesamtschule im Ruhrgebiet, an der ich als junge Lehrerin tätig war, die Nachricht verbreitete: „In Bonn hat grade eine Konferenz begonnen, da wird Geschichte ganz neu gedacht: es geht nicht mehr um die Herrscher und Sieger, sondern um das Handeln von Frauen in der Vergangenheit.“ In der großen Pause brachen wir auf. Unterwegs hörten wir im Autoradio ein Interview mit Annette Kuhn. Das Fach Geschichte, so sagte sie, sei über männliches Handeln in der Öffentlichkeit definiert worden. Frauen könnten sich daher in ihm nicht wiederfinden, Mädchen erhielten keine Angebote für ihre Identitätsbildung aus der Vergangenheit, die doch ein Schatzhaus darstelle für die Erfahrungen und Erkenntnisse der ganzen Menschheit. Wir waren begeistert! An der Uni Bonn waren Hunderte von Frauen versammelt; Sektionen gab es über weibliches Leben in allen Epochen, Lebenslagen und Berufen; jede, die sich zum Thema kompetent fühlte, durfte referieren; auch die Teilnehmenden wurden nicht nach ihren Titeln befragt, ohnehin duzten sich alle, jede war willkommen, es wurde wild diskutiert, abends führten Frauen etwas auf, machten Musik. Es wurde gefeiert, getanzt und gelacht. Nicht nur inhaltlich, sondern auch kommunikativ vollzog sich hier ein Aufbruch, ein außerordentlicher Wandel war im Gange, so nahmen wir es wahr. Wir mieteten uns in einem Hotel ein, kauften im Supermarkt ein paar Toilettenartikel und Wäsche. Ich rief in der Schule an und gab die Namen der fünf Lehrerinnen durch, die sich für den Rest der Woche krank melden wollten. Der Schulleiter lachte: „Ich dachte mir schon, dass ihr dableibt. Wie gern wäre ich jetzt bei Euch, sind denn auch Männer dabei? Ja, Geschichte muss völlig anders werden, das ist klar. Von Frauen war da bisher nie die Rede. Und tragt das dann mal zurück in die Klassen!“

 

Ja, Geschichte musste anders werden, Schule und Unterricht auch. An den Hochschulen gab es Protestbewegungen, die zum Teil gewalttätig eskalierten. Als Studierende und junge Lehrpersonen forderten wir Aufklärung über die Vergangenheit, wir wollten Teilhabe und Mitbestimmung, nahmen uns Rechte heraus, die uns eigentlich verwehrt wurden, selten genug erhielten wir Unterstützung von Autoritäten. In der restaurativen Phase der Nachkriegszeit hatte sich eine historistisch geprägte, primär nationalgeschichtlich orientierte Ereignisgeschichte etabliert; sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze der Weimarer Zeit wurden ganz zurückgedrängt. Dabei kam dem Fach Geschichte eine Schlüsselfunktion zu, um in dieser Phase der Suche nach Orientierung den Horror von Nationalsozialismus und Holocaust zu erforschen und bei der erinnerungskulturellen Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges aktiv mitzuwirken. Daraus ergab sich eine schwierige Aufgabe gerade für die Didaktik, denn der Diskurs war weitgehend öffentlich und durch Unsicherheiten und Kontroversen geprägt; die erfolgreiche Lösungssuche einiger Repräsentanten war sicher befriedigend, ja oftmals befreiend, die Realisierung der Konzepte erfolgreich, vollzog sich aber oft auch sehr langsam und schmerzhaft, zum Teil ist sie bis heute unvollendet. Diese Arbeit wird in besonderer Weise auch mit dem Namen einer Frau verbunden bleiben, dem von Annette Kuhn, die im Alter von 85 Jahren am 27. November 2019 starb.

 

Aufgewachsen und vielseitig geprägt in einem intellektuellen Elternhaus hatte Annette Kuhn 1966 mit 32 Jahren einen Ruf für Didaktik der Geschichte, Mittlere und neue Geschichte’ an die damalige Pädagogische Hochschule Rheinland, die später in die Universität Bonn integriert wurde, erhalten. Ihre Berufung war eine Sensation. Eine so junge Frau sollte verantwortlich sein für die historisch-politische Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen in der damaligen Bundeshauptstadt, in der es politisch brodelte? Und es wurde ihr nicht leicht gemacht. Zudem hatte sie keine Schulerfahrung und keine Vorstellung davon, was „Didaktik“ eigentlich ist, wie sie in ihrer Autobiographie festhält. Gerade daraus aber ergab sich ein Freiraum, der es zuließ, dass sie unbelastet von den verkrusteten Strukturen und dumpfen Traditionen der Lehrerbildung ihre Arbeit neu definieren konnte. Mit großer Euphorie und Dynamik verfolgte sie dabei in den folgenden Jahrzehnten unkonventionelle eigene Wege, die sie ungebrochen und mutig gegen Widerstände verteidigte. In den Turbulenzen um Wiederbewaffnung und Aufrüstung der Bundesrepublik widmete sie sich zunächst vor allem der Friedenserziehung; Fragen nach den Ursachen von Gewalt sowie den Wegen, ihr zu begegnen und sie zu verhindern, durchziehen ihr Leben.

 

In dieser Phase der 1970er-und 1980er-Jahre wurden die Grundlagen für eine kritisch reflektierende Geschichtsdidaktik als einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin gelegt. Annette Kuhn war maßgeblich beteiligt an der Ausgestaltung des Theoriekonzeptes. In ihrer 1974 erschienenen „Einführung in die Geschichtsdidaktik“ forderte sie, von einer kritischen Gegenwartsanalyse ausgehend die Emanzipationsbewegungen der Vergangenheit in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen, um an diesen Beispielen Orientierungen für ein eigenes Handeln im Sinne einer Mit- und Selbstbestimmung zu gewinnen. Sie überschritt damit weit die Grenzen des bisherigen Verständnisses von der Aufgabe des Faches Geschichte als einer Methodenlehre  zur Vermittlung von Daten und Fakten, deren Auswahl nicht hinterfragt und schon gar nicht legitimiert wurde.

 

Nach ca. 15 Jahren der Diskussionen über eine gemeinsame Basis kam 1979 das zunächst zweibändige „Handbuch der Geschichtsdidaktik“ heraus, in dem ein unter führenden Didaktikern und progressiven Historikern weitgehend konsensfähiger Ansatz vorgestellt und entfaltet wurde. Das Fach wurde darin beschrieben als eine „Disziplin, die sich der Frage nach der Gestalt, der Entstehung und der Funktion des historischen Bewusstseins in der Gesellschaft verschrieben hat“ (Handbuch S. XXVII). Bewusstseinsprägung also, nicht die Wissensvermittlung eines Kanons sollte das Ziel historischer Bildung sein, das war eine zunächst nahezu revolutionäre Neuerung. Zu dem Herausgeberteam gehörten neben Annette Kuhn auch Klaus Bergmann, Jörn Rüsen und Gerhard Schneider. Sie war vor allem verantwortlich für das Kapitel über die Curriculumentwicklung, die im Zuge der Bildungsreformen in den Bundesländern vorangetrieben und politisch äußerst kontrovers verhandelt wurde. Ihre Position über die Kriterien für die Selektion der Inhalte überwand die bis dahin maßgebliche historistische Begrenzung: die Beziehungen zwischen dem „Sachfeld Geschichte und dem lernenden Subjekt“ (Handbuch, S. 269) sollten die curricularen Entscheidungen begründen, so stellte sie es hier dar. Diese Perspektive auf die Voraussetzungen der zu Belehrenden sollte für ihre didaktische Arbeit zentral bleiben. Das „Handbuch“ entwickelte sich zu einem Jahrhundertwerk der Nachkriegsdidaktik, wurde mehrfach aktualisiert und erlebte bis 1997 fünf Auflagen. Es gab zahlreiche Anstöße und ist in entscheidenden Artikeln bis heute weitgehend bestimmend für das Fach. Erst in letzter Zeit wurde vermehrt als Defizit konstatiert, dass ihm, im Gegensatz zu vergleichbaren Werken aus dem Bereich der Sozialwissenschaften, die globale Perspektive fast völlig fehlte. Auch in der parallel zum Handbuch erscheinenden Zeitschrift „Geschichtsdidaktik“ saß Annette Kuhn als einzige Frau im Kollektiv der Herausgebenden.

 

Zu den weitgehend neuen Themen, die angesichts dieser Zielperspektiven in den Mittelpunkt des Historischen Lernens gerückt werden sollten, gehörte die Frauengeschichte. Während das entsprechende Stichwort in der ersten Auflage des Handbuches noch aus der Feder von Bodo von Borries stammte, wurde in den folgenden Jahren Frauengeschichte zum „zentralen Anliegen“ Annette Kuhns, wie sie später in ihrer Autobiographie schreibt (S. 172). Durch zahlreiche Publikationen trieb sie die Verbreitung von Materialien aller Art über die Vergangenheit von Frauen entscheidend voran. Interesse und Nachholbedarf waren groß, entsprechend gab es hohe Auflagen aller dieser Schriften. Die Hefte der „Geschichtsdidaktik“, die dem Themenschwerpunkt  ‚Frauen in der Geschichte’ gewidmet waren,  die Buchreihe zur Zeitschrift und vor allem der reich bebilderte Überblicksband „Chronik der Frauen“ (1992) stehen als Standardwerke in den Bücherregalen zahlreicher mit Schule und Unterricht befasster Personen; viele nahmen an den großen Tagungen teil, die bis 1985 in Bonn stattfanden; von hier ausgehend entfaltete sich das akademische „Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW“. Im Jahre 1986 hängte die Wissenschaftsministerin dieses Bundeslandes an die Denomination des Lehrstuhles von Annette Kuhn den Zusatz „sowie Frauengeschichte“. Damit war sie die erste Vertreterin dieser Richtung als eigener akademischer Disziplin in Deutschland. Sie sollte auch die einzige bleiben. Die konservative Riege der Geschichtsdidaktiker, die ihre Absichten als „nicht wissenschaftlich“ bezeichneten, kritisierte sie vernichtend; einige Jahre lang wurde ihr das Recht, Prüfungen abzuhalten, entzogen. Aber auch innerhalb der Geschlechterforschung setzten sich andere Positionen durch. Annette Kuhn hatte sich immer um eine Arbeit im Team bemüht und ihre Werke waren zunächst in Kooperationen erschienen, nicht nur mit den führenden Didaktikern, sondern auch mit zahlreichen der bis heute maßgeblichen Forscherinnen und Forscher über Geschlecht in der Geschichte. Doch rückte die Entwicklung der Theoriebasis beide Geschlechter in den Fokus, ja, die für eindeutig gehaltene Kategorie Geschlecht wurde verflüssigt und pluralisiert. Annette Kuhn hielt dagegen daran fest, Frauen als das benachteiligte Geschlecht hätten eine „Eigengeschichte“ und bedürften der expliziten Thematisierung. 2010 fasste sie in „Historia. Frauengeschichte in der Spirale der Zeit“ ihr Konzept zusammen, das sie in der Auseinandersetzung mit der Geschlechterforschung geformt hatte. Sie realisierte seine Visualisierung in einem Museum und erfüllte sich damit ihren Lebenstraum nach einem „Haus der Frauengeschichte“. Bis heute finden dort zahlreiche Veranstaltungen statt.

 

Das Geheimnis ihrer eigenen Geschichte konnte die engagierte Geschichtsdidaktikerin erst in reifen Jahren entziffern: bei dem Tod ihrer Mutter erfuhr sie, warum ihre Eltern nach England und Amerika emigriert und 1948 zurückgekehrt waren: sie waren jüdischer Herkunft; nahe Verwandte wurden in Theresienstadt ermordet. Dem Judenstern, den sie unbewusst trug, hat sie in der Erinnerung eine Leitfunktion für ihr Leben zugeschrieben; explizit hebt sie seine goldene Farbe hervor, die für den Optimismus steht, der sie trotz aller Rückschläge nie verließ. Ihrer 2003 veröffentlichten Autobiographie gab sie den Titel „Ich trage einen goldenen Stern“, und ließ ihren Schicksalsweg mit dem Jahr 1933, also ein Jahr vor ihrem eigentlichen Geburtsdatum beginnen. Und obwohl sie im Exil in England und den Vereinigten Staaten aufwuchs, wählte sie als Untertitel des Buches „Ein Frauenleben in Deutschland“. In der Tat ist Annette Kuhns Biographie auf besondere Weise in das 20. Jahrhundert dieses Landes eingeschrieben: in das Leid über seine Irrwege und Katastrophen, die Hoffnung auf Neuanfang, die sich in Suchbewegungen und Sehnsüchten ausdrückte, auch in die Umbrüche und Orientierungen, die realisiert wurden. In den Prozess der Bewusstwerdung und Selbstreflektion der Gesellschaft über die historischen Grundlagen der Identitätsbildung der folgenden Generation hat sie immer wieder gestaltend eingegriffen und ihm ihr Zeichen aufgedrückt: mit kreativer Kraft, großer Gradlinigkeit und immer wieder unerschütterlich gegen Widerstände. Annette Kuhn starb in der Stadt Bonn, der sie sich seit ihrer Berufung eng verbunden fühlte.

 

Bea Lundt (Berlin/Ghana)